Trotz Prüfungen gibt’s die Matura geschenkt

Gespannt versammelten sich die Schülerinnen und Schüler der Petition «Abschlussprüfungen streichen – St. Gallen zieht mit» vergangenen Mittwochnachmittag für die Medienkonferenz des Bundesrats. Mit genügend Abstand fieberten sie dem Entscheid der Landesregierung entgegen. Doch ihre Hoffnungen wurden nicht belohnt: Der Bundesrat bleibt bei seiner Entscheidung, die Durchführung der schriftlichen Abschlussprüfungen den Kantonen zu überlassen. In einem offiziellen Schreiben verkündigte die Schülergruppe am 30. April, dass sie ihren Kampf aufgibt. Resignation macht sich nun bei allen Maturanden/-innen des Kantons breit. Doch weshalb?

Am 21. April hat die EDK (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren) endlich ihr Schreiben an den Bundesrat publik gemacht. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Link in den Klassenchats der Maturaklassen dieses Landes. Erste Kantone verkündeten bereits, dass sie die Maturaprüfungen gänzlich abblasen wollen. Also startete die Petition «Abschlussprüfungen streichen – St. Gallen zieht mit». Das Ziel: Maturaklassen sollen wie in anderen Teilen der Schweiz auch in unserem Kanton keine Prüfungen absolvieren. 2.167 Unterschriften verzeichnete die Petition bei Eingabe an den vorstehenden Regierungsrat Stefan Kölliker. Ebenfalls lancierten Lehrerpersonen der KSBG eine Petition mit 142 Unterschriften. Auch diese wurde an den Regierungsrat gesendet.

Doch das Bildungsministerium des Kanton St. Gallens zeigte sich stur und kann seit dem 29. April ihren Entscheid in die Tat umsetzten – ganz zum Entsetzen der Schüler/-innen. Frust, Demotivation und Enttäuschung herrschen nun unter den Maturanden/-innen des ganzen Kantons. Eine an Maturanden des Kantons St.Gallens gerichtete Umfrage durch kantilive ergab, dass bei 97% der 157 Teilnehmern Unzufriedenheit mit dem Entscheid des Kantons herrscht. Ausserdem äusserten 52% der Befragten Sicherheitsbefürchtungen vor der Prüfung.

 


“Bist du mit den Entscheid des Kantons für die Durchführung der Maturaprüfungen zufrieden?”

 

“Fürchtest du dich aufgrund der Sicherheit davor, die Maturaprüfung zu schreiben?”

 

Auf die Frage, ob sich die Schüler bereits auf die Prüfungen vorbereitet hätten, antwortete über ein Drittel mit «nein». Nur 8% habe sich bereits intensiv auf die Prüfungen vorbereitet. Die grosse Mehrheit (57%) antwortete allerdings mit «teilweise».

Im letzten Feld der Umfrage, welches Schülern die Möglichkeit gab, sich frei über die Situation zu äussern, fiel oft der Begriff «einheitliche Lösung». So wurde von vielen die Gerechtigkeit der resultierenden Situation kritisiert. Die Sorge, dass dieses landesweite Matura-Wirrwarr zu einer Verfälschung des nationalen Wettbewerbes beim Numerus Clausus für das Medizinstudium oder die Aufnahmeprüfungen für das Sportstudium in Basel führen kann, ist der meist genannte Grund für die Unzufriedenheit mit dem jetzigen Entscheid. Jedoch appellierten nicht alle Schüler für eine fairere Bereinigung dieses Problems. Etliche Kommentare machten die Frustration vieler Schüler ein weiteres Mal deutlich. So offenbarte sich nebst der Enttäuschung, weder auf Bundes- noch auf Kantonsebene ernst genommen worden zu sein, eine spürbare Wut.

Weshalb aber kann die «Klimajugend» nicht auch jetzt auf die Barrikaden? Man könnte ja Prüfungsbögen leer abgeben oder gar nicht zur Prüfung erscheinen? Doch nichts kommt mehr – es zeigt sich kein Funke des Rebellierens, der Revolution. Hinnahme ist die vorherrschende Reaktion.

Die Schülerschaft fürchtet sich davor, dass nicht genügend Personen mitziehen. Wenn nur eine Handvoll solche Aktionen durchzieht, dann bekommen sie einfach keinen Abschluss und opfern dafür ein Jahr. Die Solidarität, die von den Bundesrätinnen und Bundesräten so hoch gelobt wird, gibt es anscheinend bei den Maturandinnen und Maturanden nicht.

Aber es ist nicht nur die Angst vor dem Nichtbestehen, sondern auch der Umstand, dass die Maturaprüfung dieses Jahr praktisch keine Relevanz mehr hat, welcher die Maturanden/-innen umtreibt. Die schriftlichen Prüfungen zählen dieses Jahr lediglich zu einem Drittel. Die mündlichen wurden gänzlich abgesagt. Die Zeugnisnote erhält eine höhere Gewichtung von zwei Dritteln. Und für alle, die sich nicht entsprechend vorbereiten konnten, können in «Würdigung der Persönlichkeit» nun zwei Noten bis um einen Notenpunkt nach oben korrigiert werden. Denn das Problem ist, dass selbst massiv ungenügende Noten in der Endabrechnung wahrscheinlich keinem Rekurs standhalten. Dies aber nur dann, wenn man zur Prüfung erscheint und das Blatt nicht ganz leer abgibt. Dank der neuen Gewichtung gibt es jedoch jetzt bereits Schülerinnen und Schüler, die genau dies tun können. Denn die maximal zulässigen Maturanoten unter der Note vier, können diese nicht mehr erreichen. Aber selbst diejenigen, die nur wenig lernen und eher knapp bestehen, haben verhältnismässig mehr Zeit zum Lernen als sonst. Vor allem, da man nur den Stoff der Schriftlichen und nicht auch noch den der Mündlichen lernen muss. Es lässt sich also sagen: «Die Matura gibt’s praktisch geschenkt».

Wenn unsere Abschlussprüfung nun also zur Formsache verkommen ist, dann sei die Frage erlaubt, weshalb man sie überhaupt durchführt.

Bild: Tenzin Peldon Tsultrim