Die Memoiren eines Undercover-Fotografen: Auf der Insel Giglio

Fotografie ist die Kunst, den schönsten Moment festzuhalten. Theoretisch ist es so – in der Praxis ist es jedoch schwieriger als auf einen Knopf drücken. Es ist noch schwieriger, wenn man Bilder von anderen machen will, ohne dass die es merken. 

Ich war einer der 40, die gemeinsam in der ersten Woche der Herbstferien auf der Insel Giglio an einem Meeresbiologiekurs teilgenommen haben. Neben der Rolle des normalen Mitreisenden hatte ich noch eine andere Identität: die des Fotografen. Eigentlich war ich nicht allein, es sollten noch 14 andere Menschen dabei sein, die Bilder von der Reise machen. 

Als wir am Ziel ankamen, wusste ich nicht, wer sonst im Media-Team war. Für mich war es wie in einem Spionage-Film: Ich wusste, dass es Verbündete gab, doch ihre Identitäten blieben im Schatten verborgen. Meine Mission war klar: Ich musste Bilder von den anderen machen, ohne dass die von mir fotografierte Person etwas bemerken würde 

Warum machte ich mein Leben so kompliziert? Ich wollte den Moment so festzuhalten, wie er tatsächlich war und nicht etwas Inszeniertes fotografieren. Es war auch so, dass mit meinen Inszenierungsfähigkeiten die fotografierten Personen gewöhnlich steif und gekünstelt aussehen. Theoretisch müsste ich nur auf den entscheidenden Augenblick warten und diesen einfangen.  

Aber jetzt ist Schluss mit den schönen Idealen, denn wir wollen die Wirklichkeit konfrontieren. Wegen meines Modus Operandi arbeiteten die Fotografierten nicht mit mir. Ohne die Unterstützung der Modelle stimmte sehr oft etwas nicht: Geschlossene Augen, merkwürdige, aber amüsante Gesichtsausdrücke und unscharfe Bilder waren die Norm. Leider wollten solche Exemplare nicht hochgeladen werden, da sie in den falschen Händen zur Waffe werden könnten. Vielleicht sind solche Bilder kein Titelbild von der Vogue, aber sie sind immerhin gutes Erpressungsmaterial. 

Jeden Tag assen wir gemeinsam Abendessen, das war die Zeit meiner verstärkten Spionageaktivitäten. Mein Aussehen eines stereotypischen asiatischen Touristen hat mir geholfen, mich beim Fotografieren der anderen während des Abendessens unauffällig zu verhalten. Trotz meiner Vorsicht flog meine Tarnung auf. Als alle anderen beim Essen sassen und ich als Einziger mit einer Kamera herumlief, wer hätte da gedacht, dass ich dadurch auffliegen würde? 

Statt den Rest meines Lebens in einem Gefängnis wegen angeblicher Spionage zu verbringen, wurden meine Dienste mit offenen Armen empfangen. Alle kannten mich nach einem Tag als «den Fotografen» und wollten Bilder von sich haben. Meine Verbündeten haben alle nach meiner Enttarnung ihre Fotooperationen abgebrochen und ich war der Einzige, der Bilder von der Reise machte. 

Am Ende der Woche konnte ich meine Mission abschliessen. Kaum zu Hause angekommen, erhielt ich einen neuen Auftrag: Die 1200 Fotos, die ich gemacht hatte, mussten sorgfältig bearbeitet und die besten ausgewählt werden. Bei jedem Bild ging es um alles oder Nichts – die Essenz meiner zukünftigen Karriere als Fotograf war in diesen 1200 Fotos gefangen.