“Ich habe kein Recht, ihnen nicht zu antworten”

Quelle: Judith Santschi

Ivan Lefkovits ist einer der letzten verbleibenden Holocaust-Zeitzeugen. Als kleiner Junge hat er die KZ Ravensbrück und Bergen-Belsen überlebt. Im Rahmen der Wanderausstellung «Kinder im KZ Bergen-Belsen» wurde er von der Fachgruppe Geschichte eingeladen, in der Aula ein Gespräch mit Diana Gring, Kuratorin der Ausstellung und der Gedenkstätte Bergen-Belsen, zu führen.

Ivan Lefkovits wurde am 21. Januar 1937 in Prešov, der damaligen Tschechoslowakei und heutigen Slowakei geboren. Seine Mutter war Apothekerin, sein Vater Zahnarzt. Seine Familie bezeichnete sich selbst als assimilierte Juden, was bedeutet, dass sie regulär am gesellschaftlichen Leben teilnahmen, sich nicht abgrenzten und zahlreiche Kontakte zu nicht-jüdischen Menschen hatten. Schon früh merkte Ivan, dass sein 6 Jahre älterer Bruder Pavel seit einiger Zeit immer niedergeschlagener von der Schule nach Hause kam. Damals war er noch zu klein, um dies einordnen zu können, doch heute weiss er: Pavel wurde von seinen Mitschülern belästigt, weil er jüdischer Abstammung war. “Der Antisemitismus war bereits da, der Nationalsozialismus brauchte also nur noch darauf aufzubauen”, erzählt Herr Lefkovits.

“Ich habe das Wort ‘Antisemitismus’ doch noch nicht einmal gekannt”

Seine erste direkte Erfahrung mit dem Antisemitismus hat er gemacht, als das Dekret erlassen wurde, welches seinem Vater verbot, weiterhin zu praktizieren. Er wurde zum Angestellten in seiner eigenen Praxis. Nach der ‘Arianisierung’ besuchte Ivan seinen Vater in der Praxis, um wie schon so oft vorher dort zu spielen. Der neue Zahnarzt, natürlich ein ‘Arier’, packte ihn an den Schultern, schob ihn hinaus und sagte, dass er nie wieder dorthin kommen sollte. Ivan, der das alles noch nicht verstand, lief weinend zu seiner Mutter. Sie tröstete ihn und erklärte, dass alles bald wieder vorbei sein würde und der Vater seine Zahnarztpraxis schon wieder zurückbekommen würde. Daraufhin ging er zurück zu dem Arzt und sagte zu ihm: “Warten sie nur. In ein paar Jahren wird das alles wieder uns gehören und dann treten wir ihnen in den Arsch!” Das war sein “Einstieg in die hohe Politik des Antisemitismus”.

Der Druck auf die jüdische Bevölkerung wurde in der Tschechoslowakei immer grösser. Aus diesem Grund beschloss seine Familie, dass Ivan und sein Vater nach Ungarn gehen würden, von dem man sagte, dass Juden dort noch freier waren. Die Grenzüberquerung gestaltete sich jedoch schwierig, da es jüdischen Personen bereits verboten war zu reisen. Also erhielt Ivan einen anderen Pass. Leider war es der Pass eines Mädchens, und er musste sich verkleiden, um möglichst unauffällig zu wirken. An der Grenze wurde er von einem Beamten gefragt, wer er sei. Er antwortete: “Bis hier an der Grenze bin ich ein Mädchen, und nach der Grenz bin ich wieder Ivan”. Seine Begleitung befürchtete das Schlimmste. Doch sie konnten passieren. Wieso, das weiss Herr Lefkovits bis heute nicht.

Doch auch in Ungarn wurde die Lage immer prekärer. Im März begann auch dort die deutsche Besetzung. Unter der Leitung Adolf Eichmanns wurden die Juden erbarmungslos verfolgt und deportiert. Also kehrten die beiden bald wieder nach Prešov zurück. Von dort aus plante die Familie nun ihre Flucht. Während der Zeit, in der Ivan auf seine neuen Dokumente warten musste, brachten ihn seine Eltern in ein Taubstummen-Institut. Dieses Versteck erforderte von ihm viel Selbstdisziplin. Niemals durfte er in einem unkonzentrierten Augenblick zu sprechen beginnen. Besonders unausstehlich wurde es für ihn in den Momenten, als der Bombenalarm losging. Von überall her hörte er die Sirenen, doch er konnte nichts sagen, durfte den anderen nicht von dem schrillen Ton erzählen und sich nichts anmerken lassen. Weitere Erinnerungen habe er von diesen Tagen nicht, denn im Vergleich zu dem, was noch kommen würde, war es nichts, so sagt er.

Verhaftet und in den Viehwagons abtransportiert

Und dann kam der Tag der Verhaftung. Um 4 Uhr morgens klopften die Nationalsozialisten an die Türe von Ivans Familie. Sie wurden festgenommen und gezwungen, fast alles stehen- und liegenzulassen. Ivan wurde mit den anderen in einen Viehwagon getrieben und abtransportiert. Es gab einen kurzen Zwischenhalt in Ausschwitz, bevor sie weiter nach Ravensbrück gebracht wurden. Wie viele andere Menschen, die wie Ivan den Holocaust überlebt haben, ist auch er nicht imstande, zu definieren, wie viele Tage die Reise dauerte. Es gab auch niemanden, der es ihnen gesagt hätte, denn mit ihnen wurde eigentlich nicht gesprochen, meint Herr Lefkovits.

“In Ravensbrück war es schlimm, viele Leute sind gestorben, aber es war ‘ordentlich’ schlimm”

Mehrere Male nennt Herr Lefkovits das Wort “ordentlich”. Er möchte damit die Gradualität der Grausamkeiten, die er erlebt hat, ausdrücken. Was für Zuhörende an diesem Punkt vielleicht bereits über die Grenzen des für sie Vorstellbaren gestiegen ist, ist für ihn, im Angesicht dessen, was er einige Monate später erlebt hat, wie er selbst sagt, noch immer “ordentlich”. Er erzählt, wie die Menschen in Ravensbrück zur Arbeit gezwungen, unterdrückt und gedemütigt wurden, und weist darauf hin, dass es an diesem Punkt noch immer hauptsächlich Mitglieder der SS-Totenkopfverbände waren, die entschieden, wer leben durfte und wer sterben sollte. Es herrschte Ordnung: morgens mussten sich alle für den Zählappell hinstellen, wo Ivan sich so oft wie möglich an seine Mutter anlehnte. Nämlich dann, wenn die Wachen mit dem Zählen einer anderen Reihe beschäftigt waren und für einen kurzen Augenblick gerade nicht hinsahen. Danach durfte Ivan wieder in die Baracken zurückkehren, um mit den anderen Kindern zu spielen, wofür er jedoch viel zu apathisch war. Er war noch zu jung, als dass er hätte zur Arbeit eingestuft werden können.

In Ravensbrück hat seine Mutter Ivan niemals aus den Augen gelassen. Weil bei der Ankunft sein älterer Bruder Pavel und sein Vater von ihnen getrennt und ins Männerlager gesperrt wurden, richtete sich nun die ganze Fürsorge seiner Mutter auf Ivan. Zum einen hat sie, so oft es ihr möglich war, mehr gearbeitet, was heisst, dass sie sich für das sogenannte freiwillige Sonderkommando gemeldet hat, um eine Extraportion Essen für Ivan zu erhalten. In den freien Stunden hat sie Ivan schreiben, lesen und rechnen beigebracht. Ein Stift und Papier standen ihm natürlich nicht zur Verfügung, weshalb Ivan im Kopf rechnete, oder die Zahlen mit Stöckchen in römischer Schrift legte. Dabei bemerkt Herr Lefkovits: “Diese Übungen haben mir dabei geholfen, meinen Hunger eine Zeit lang zu vergessen. Hunger kann man unterdrücken, aber Durst nicht”. Viele Leute um sie herum starben, doch es war “ordentlich”, sagt er erneut. “Man wusste, wer gestorben war, man sprach über die Toten und konnte manchmal sogar religiöse Rituale abhalten. Das war später nicht mehr möglich”.

Dann wurde das Lager aufgelöst. Was folgte, war ein Evakuationstransport. Sie kamen in ein Zwischenlager. Dort empfand Ivan es zum ersten Mal als wirklich gefährlich. Die SS hielt sich zwar möglichst aus dem Lager raus, doch er fürchtete sich vor seinen Mitmenschen. Die Essensrationen waren klein oder fielen teils ganz aus, sodass viele gezwungen waren, Brot und andere Lebensmittel zu stehlen. So kam der nächste Evakuationstransport wie eine Erlösung für Ivan. Auf der Reise wurde er die meiste Zeit von einer 18-jährigen Mitgefangenen auf den Schultern getragen. Die Sache, die ihn während diesen Tagen ständig begleitete, war die Ungewissheit.
Irgendwann kamen sie in Bergen-Belsen an. Zu allererst wurden sie in eine Entlausungsstation gebracht, wo die Kleider desinfiziert wurden. Danach mussten alle duschen und ihre schmutzigen Kleider wieder anziehen. In Bergen-Belsen lauerte überall Gefahr. Als Ivan mit seiner Mutter durch das Tor ging, lagen links und rechts Leichen, aufgestapelt, an die Wand gelehnt. “Viele die überlebt haben, sprechen von herumliegenden Skeletten. Aber es waren nicht einfach nur Skelette. Es waren Skelette mit Haut, die in Halden um uns herum gelegen sind”.

Im April wurde das Lager von den Nationalsozialisten aufgegeben, der Strom abgestellt, die Tore verriegelt und die Lebensmittel mitgenommen. Diejenigen Häftlinge, die noch kräftig genug waren, über den Zaun zu klettern, taten dies. Ivan dachte, dass sie nun fliehen würden. Doch einige von ihnen kamen zurück mit Säcken voller Kartoffeln und Rüben. Auch davon nahmen sich die Schnellsten und die Kräftigsten zuerst. Für Ivan und seine Mutter blieb nichts übrig. Wie Herr Lefkovits bereits erwähnte, konnte er den Hunger aushalten. Aber der Durst quälte sie alle grausam. In der Nähe der Baracken befanden sich eigentlich sogar grosse Wasserbecken. Darin schwammen jedoch bereits zahlreiche Leichen und deren Exkremente. Alle im Lager begriffen, dass man dieses Wasser besser nicht trinken sollte. Ivans Mutter verbot es ihm unter allen Umständen, das Wasser zu trinken. “So wie Adam den Apfel nicht nehmen konnte, durfte ich das Wasser nicht trinken”. Aber viele taten es dennoch. Der Durst und die Versuchung waren so gross, dass sie sich sagten, sie würden lieber sterben als noch einen Tag länger ohne Wasser zu leben. Herr Lefkovits erinnert sich, dass die meisten von ihnen auch bald tot am Boden lagen.

Ein Skelett, aber noch keine Leiche

Am 15. April, einem Sonntag, wurde das Lager von britischen Truppen befreit. In Bergen-Belsen befanden sich zu dieser Zeit 60’000 internierte Häftlinge. “Ich war das, was man als Skelett bezeichnete. Ich war noch keine Leiche – ich konnte noch atmen und bin auf allen vieren gekrochen”. Zu diesem Zeitpunkt hatte Ivan und die meisten von den anderen Häftlingen, die noch am Leben waren, elf Tage ohne Wasser verbracht. Er und seine Mutter hatten sich während dieser Zeit die Kartoffelschalen, die liegen geblieben waren, auf die Lippen gelegt, um wenigstens etwas Feuchtigkeit aufzunehmen. “Und dann kamen die Befreier und sind im Lager herumgefahren. Wir haben alle gejubelt, sofern wir das noch konnten. Aber nach einer halben Stunde sind sie wieder gegangen und wir waren am Boden zerstört”. Die Befreiungstruppen waren mit der Situation, die sie im Lager vorgefunden hatten, völlig überfordert. Sie holten Hilfe und organisierten Wasser- und Nahrungstransporte, die aber erst zwei Tage später eintrafen. Aus diesem Grund betrachteten Ivan und seine Mutter auch nicht den 15., sondern den 16. April 1944 als den Tag der Befreiung. Der erste Schluck Wasser war der erste Schritt zurück in die Freiheit.

“Man hat uns doch versprochen, dass niemand zurückkommt”

“Nach der Befreiung war nicht der Essensmangel das Problem. Es war sein Gegenteil. Viele Leute sind in den folgenden Tagen gestorben, weil ihr Magen sich nicht mehr an das Essen gewöhnt war”. In den Monaten nach der Befreiung sind in Bergen-Belsen nochmals 14’000 der kranken und geschwächten ehemaligen Häftlinge gestorben. Typhus und Ruhr waren im Lager ausgebrochen. Die Wege, auf denen die Transporte und Krankenwagen fuhren, wurden mit Sägemehl aufgeschüttet, um einer Verbreitung der Seuchen so gut wie möglich vorzubeugen. Ivan verbrachte die nächsten Monate in einem Lazarett, bis er und seine Mutter sich genug erholt hatten, um Mitte Juni nach Prešov zurückzukehren. Beide hatten erwartet, dort ihre Verwandtschaft wiederzusehen. Doch die einzigen Überlebenden der Familie waren Ivan, seine Mutter und ihre zwei Schwestern.
Von einigen Nachbarn, die ehrlich waren und den beiden mitteilten, dass sein Vater vor der Deportation bei ihnen Gegenstände deponiert hatte, bekamen sie Wertgegenstände zurück. Andere schlugen, nachdem sie die Rückkehrer gesehen hatten, die Hände über dem Kopf zusammen und meinten: “Man hat uns doch versprochen, dass niemand zurückkommt”. Danach war die Slowakei für Ivan passé. An diesem Ort wurde seine Familie vernichtet. Als er zwölf war, heiratete seine Mutter wieder und sie zogen nach Prag, wo er später auch studierte.

“Die in Ausschwitz hatten es besser”

Später erfuhren sie, dass Pavel, Ivans Bruder, und sein Vater umgekommen waren. Nachdem sie im KZ Ravensbrück von den beiden getrennt worden waren, blieben sie dort inhaftiert. Formell wurden in Ravensbrück keine Vergasungen durchgeführt. Doch als die Menge an Häftlingen immer weiter zunahm und keine weiteren Kapazitäten mehr zur Verfügung standen, wurden auch dort die Baracken in Gaskammern umfunktioniert. Sie wurden schnell, notdürftig und mangelhaft umgewandelt. Weil sie deshalb undicht waren, dauerte es viel länger, bis man darin starb und das Leiden wurde verlängert. Pavel ist in einer von ihnen gestorben. “In Ausschwitz kam der Tod wenigstens schnell. Die in Ausschwitz hatten es besser”, so Herr Lefkovits. Ivan und seiner Mutter erfuhren auch, dass sein Vater in dieser Zeit ermordet wurde. Er wurde mit einigen anderen Männern an die Donau geführt und dort erschossen.
Zum Schluss wird Herr Lefkovits nochmals nach der 18-jährigen jungen Frau gefragt, die ihn bei der Auflösung des KZ Ravensbrück auf der Reise nach Bergen-Belsen auf den Schultern getragen hatte. Er hat sie 60 Jahre später in Israel getroffen. Ein kurzer Moment seines Schweigens macht sichtbar, wie bedeutend dieses Treffen für ihn war.
Auf die Frage, ob es ihm angesichts seiner öffentlichen Auftritte nicht schwerfalle, mit seiner Vergangenheit abzuschliessen, meint er: “Ich selbst habe ja so lange darüber geschwiegen. Als es die Leute dann erfuhren, hatten sie viele Fragen. Ich habe nie darauf bestanden, irgendjemandem meine Geschichte zu erzählen. Ich habe mich nie angeboten, doch wenn sie mich fragen, habe ich kein Recht, ihnen nicht zu antworten”.