Gummischrotschüsse, Scherbenzerbrechen, lautes Geschrei. Einige Schüler*innen an der Kanti haben die Krawalle in der St. Galler Innenstadt vom Osterwochenende hautnah miterleben müssen und erzählen nun von ihren Erlebnissen. Ein Bericht von Pascal Keel
Es waren dystopische Szenen, welche sich am Karfreitag im Herzen der Stadt St. Gallen abspielten. Nachdem es bereits eine Woche zuvor auf dem Roten Platz zu Unruhen gekommen war, versammelten sich am frühen Abend erneut rund tausend Menschen in der St. Galler Innenstadt. „Es war ein kunterbuntes Publikum“, betont die St. Galler Stadtpräsidentin Maria Pappa an der Medienkonferenz am Samstagmorgen. Es seien vor allem Junge gewesen, die nicht nur aus der Umgebung, sondern aus der ganzen Schweiz angereist seien.
Während die meisten von ihnen da waren, um gegen die Corona-Massnahmen zu protestieren oder sich einfach mal wieder mit Freund*innen zu besaufen, so waren eine nicht ganz bescheidene Anzahl von Jugendlichen nur auf eines aus: Gewalt.
Aus nächster Nähe
Trotz nie dagewesenem Polizeiaufgebot drohte die Situation dann gegen 21 Uhr erstmals zu eskalieren. Kantischülerin Rebecca Buschor beobachtete die Geschehnisse von ihrer Wohnung im Stadtzentrum aus: „Die Leute fingen an rumzurennen. Plötzlich fiel ein Schuss und es waren Schreie zu hören“, erzählt die Maturandin. „Man hörte immer wieder Scherben und Geschrei. Dann wurde einer verhaftet, der sich gewehrt hatte und die Menge fing an ‚ACAB‘ (All Cops Are Bastards; Anm. Red.) oder ‚zeigt Widerstand‘ zu rufen.“
Rebecca Buschor filmt die Augenblicke kurz vor der ersten Eskalation.
Eine Kantischülerin, die anonym bleiben möchte, befand sich gar unter der Menschenmenge und schaute zu, wie auch die Lage auf dem Roten Platz langsam aus dem Ruder lief: „Gegen Viertel vor 10 fingen alle an, Richtung Neumarkt zu marschieren“, berichtet sie. Dort hätten dann einige Chaoten Flaschen in Richtung Polizei geworfen. „Aus dem Nichts hörte man Schüsse und alle rannten wieder davon. Daraufhin drängte sie die Polizei immer mehr in Richtung Bahnhof und setzte dabei Tränengas ein.“
Aufgeheizte Stimmung: Ein Einkaufswagen steht am Neumarkt in Flammen.
Auffallend viele sollen unter Einfluss von Alkohol oder anderen Drogen und demnach ziemlich aggressiv gewesen sein, bestätigt sie. Ihr wurde es dann auch zu viel, als einige Verhüllte anfingen, Sachbeschädigung zu begehen und Fenster einzuschlagen. „Ich habe sogar gesehen, wie eine Frau vor einen Polizisten gepisst hat. Das hat mir dann endgültig den Rest gegeben und ich habe mich auf den Weg nach Hause gemacht.“
Venise Helbling ist ebenfalls Viertklässlerin und wohnt etwas ausserhalb des Stadtzentrums. Sogar sie habe die Schüsse gehört, allerdings sei es der Polizeihelikopter gewesen, welcher den ganzen Abend über der Stadt kreiste, der am lautesten gewesen sei. Updates und Bilder von den Geschehnissen erhielt sie von einer Freundin, die in der Nähe des Klosterplatzes haust, genauso wie vom Livestream von 20 Minuten: „Wenn man das Ganze nicht nur hört, sondern auch noch diese Bilder sieht, könnte man meinen, wir sind in einem Kriegsgebiet.“ Bei Rebecca weckten die Vorfälle gar Erinnerungen an die gewaltsamen Proteste während der Katalonien-Krise, welche sie vor einigen Jahren in Barcelona miterlebt hat.
Auch am Klosterplatz wurde gepöbelt. Die Polizei reagierte mit einem Grossaufgebot von Spezialfahrzeugen.
Schüsse und Schreie sollen noch bis tief in die Nacht zu hören gewesen sein, ehe sich die Lage gegen Mitternacht wieder zu beruhigen schien. Noch bis 2 Uhr morgens hörte Venise betrunkene Demonstranten auf dem Heimweg an ihrer Wohnung vorbeischlendern.
Fazit der Ausschreitungen
Am darauffolgenden Samstag kommunizierte die Stadtpolizei St. Gallen, dass wegen der Ausschreitungen 21 Personen vorübergehend festgenommen wurden, davon kämen 19 aus der Ostschweiz, zwei aus der übrigen Schweiz. Nachdem am Vorabend Container in Brand gesetzt und Schaufenster zerstört wurden, gehe man ausserdem von einem Sachschaden von mindestens 50‘000 Fr.- aus. Rebecca Buschor bestätigt, dass sie am Samstag beim Gang durch die Gassen der Innenstadt einige kaputte Scheiben gesehen habe. Laut Stadtpolizei St. Gallen wurden bereits sieben Anzeigen wegen Sachbeschädigung eingereicht. Viele Geschäfte, die von den Schäden betroffen sind, haben ohnehin schon mit den Folgen der Pandemie zu kämpfen und geraten nun nur noch mehr in Existenznot. Daher reagierte die Polizei auch mit massiv verstärkter Präsenz und wesentlich härteren Personenkontrollen, nachdem es am Ostersonntag zu erneuten Gewaltaufrufen auf Sozialen Medien gekommen war. Gemäss Polizei sollen am Sonntag rund 500 Personen aus der Stadt weggewiesen und rund 60 Personen verhaftet worden sein, alle davon seien nun allerdings wieder auf freiem Fuss. Dank des erhöhten Polizeieinsatzes waren am Sonntag keine weiteren Krawalle zu beklagen.
Harte Kontrollen: Am Bahnhof müssen sich die Leute am Ostersonntag ausweisen.
Konsens unter Kantischüler*innen
Was die Meinung innerhalb der Kantischülerschaft bezüglich der Geschehnisse vom Karfreitag angeht, so werden die Ausschreitungen weitgehend stark verurteilt. „An jeden, der gestern in St. Gallen war, wir sind keine Friends mehr, dürft mir gerne entfolgen“, schreibt ein Instagram-Nutzer am Samstagmorgen. Auch die anonyme Schülerin, welche sich hautnah am Geschehen aufgehalten hatte, betont, dass sie mit den Chaoten nichts am Hut hat und ihre Beweggründe streng verurteilt. Sie sei nur aufgrund des Spektakels vor Ort gewesen und unterstütze die ganze Aktion keineswegs.
Ob es in den kommenden Tagen erneut zu hitzigen Strassenschlachten kommen wird, ist abzuwarten. Die strengen Kontrollen am Ostersonntag haben allerdings gezeigt, dass die St. Galler Stadtpolizei eine Wiederholung der Vorfälle vom Karfreitag um jeden Preis verhindern will.
Bild- und Videoquellen:
Titelbild: https://www.berneroberlaender.ch/st-galler-polizei-kuendigt-grosse-personenkontrollen-an-511236162007
Video 1: Rebecca Buschor
Video 2: Venise Helbling
Bild 1: https://www.srf.ch/play/radio/regionaljournal-ostschweiz/audio/krawalle-in-st–gallen-der-tag-danach?id=746314d6-bbb6-4e67-a930-a7c972eff38e
Bild 2: Venise Helbling
Bild 3: https://tagesnews-schweiz.ch/2021/04/05/reportage-das-lasse-ich-mir-nicht-bieten-wie-die-st-galler-stadtpolizei-im-kampf-gegen-neue-krawalle-am-sonntagabend-vorging/
Sonstige Quellen:
https://www.srf.ch/news/schweiz/krawalle-in-st-gallen-polizei-chef-von-21-verhafteten-kamen-19-aus-der-ostschweiz
https://www.stadt.sg.ch/home/verwaltung-politik/newsroom-medienmitteilungen/medienmitteilungen-stadtpolizei.html