Politik von Null auf Hundert

Am vergangenen Montag fand der zweite Politiktag der Kantonsschule am Burggraben statt. Wer, wie, was und wieso? – Auf diese Fragen geht Vera Oberholzer, Viertklässlerin und Mitorganisatorin des Events, in ihrem Bericht ein.

29. November 2021. Ein Montag. Sie schaffen es irgendwie immer, viel zu schnell wiederzukehren, die Montage. Auf diesen habe ich mich zwar sonderbarerweise gefreut, aber auch er ist mir allzu plötzlich aufgetaucht. Kaum hatte ich vor ein paar Monaten bei null angefangen zu zählen, mussten wir schon unser Leitthema wählen; war ich bei drei, die erste Sitzung vorbei; und war ich dann bei hundert, total verwundert: “Es geht schon los!?”

Am Anfang – das war im Mai, wenn ich mich richtig erinnere – waren wir acht Schüler*innen; damals noch in der dritten Klasse. Wir trafen uns draussen neben dem Kantiheim, alle mit ähnlichem Interesse: An unserer Schule soll mehr Platz für Auseinandersetzungen mit politischen Themen geschaffen werden. Wenn es schon kein Schulfach hierfür gibt, dann doch bitte wenigstens einen Tag, an dem wir uns intensiver mit dem Schweizer Politsystem beschäftigen können. Wir wollten den zwei Jahre jungen Politiktag für die Viertklässler*innen weiterführen, da waren wir uns einig. Besonders, weil er letztes Jahr leider ins Corona-Wasser gefallen war. Schwerer tat sich unser Team bei der Themenwahl. Es soll umfassend sein, doch nicht allzu gigantisch. Alle Teilnehmer*innen sollen dazu etwas zu sagen haben, und dennoch von der Errungenschaft neuen Wissens profitieren können. Nach einigem Hin und Her liessen wir die Mehrheit entscheiden: Politik und Psychologie. Ja, soviel zum Thema “nicht allzu gigantisch”.

29. November, 08:15 Uhr

Nach einer kurzen Begrüssung in der Aula machen sich circa 160 Schülerinnen und Schüler auf den Weg zum ersten Workshop ihrer Wahl. Unsere 11 Ehrengäste, darunter Politiker*innen, Professor*innen und Lehrpersonen, sorgen für eine grosse Bandbreite interaktiver Workshops. Ich hoffe, es ist für jede und jeden was dabei.

Mit dem Fotoapparat in der Hand klappere und knipse ich alle Workshops ab. Dummerweise bin ich heute Morgen, weil Montag und stressig und so, mit dem falschen Objektiv aus dem Haus gestürmt – ich durfte den Bus schliesslich auf keinen Fall verpassen. Bei der Bushaltestelle war ich zum Glück gerade noch on point; die Bilder sind es dafür nun umso weniger. Meine Fototour lohnt sich trotzdem für mich, denn die Kurse sind ausgesprochen spannend gestaltet. Fünf Minuten reichen jeweils schon, um dies erleichtert feststellen zu können. Wie gut bis jetzt alles aufging!

Im Workshop von Nationalrätin Franziska Ryser verweile ich etwas länger. Ich finde es wirklich beeindruckend, wie selbstsicher und wortgewandt sie referieren kann. Wo sie das wohl gelernt hat? Die junge Politikerin der Grünen Partei habe auch einmal an der KSBG ihre Matura absolviert. Ob sie damals bereits an Politik interessiert war? War sie schon immer grün? Ihrem Lebenslauf entnehme ich später, dass sie tatsächlich schon früh angefangen hat, sich politisch zu engagieren. Im Alter von 23 Jahren, also im Jahr 2013, wurde sie ins St.Galler Stadtparlament gewählt. Von da an ging es für sie fast jährlich um ein paar Sitze in die Höhe, bis sie schliesslich im Jahr 2019 Nationalrätin wurde. Heisst das, unsere Chancen für einen erfolgreichen Einstieg in die Politik liegen gar nicht bei null? Sie führt es uns direkt vor Augen: Ganz und gar nicht! Wir müssen ja nicht gleich bei hundert zu zählen beginnen. Oder, Frau Ryser?

11:15 Uhr

Einer, dann zwei und auch der dritte Workshop ist gleich vorbei. Zeit, kurz durchzuatmen. Milena, Jelena – zwei wichtige Köpfe des OKs – und ich empfangen gerade unsere neuen Gäste. Es sind die Jugendparlamentarier*innen, welche sich dazu bereit erklärt haben, ihre Parteien bei uns vorzustellen. Während sie aus ihren Plakaten und Flyer Infostände errichten, unterziehen sich die Schüler*innen in der Aula einem Test, der nach dem Beantworten aller Fragen, die am besten zu ihnen passenden Schweizer Parteien aufzeigt. Dies soll für eine bessere Orientierung zwischen und zu den sieben Infotischen sorgen. Will ich zu dem des Jugendparlaments, zu den Jungen Grünen, den Jungsozialist*innen, zur Jungen Schweizerischen Volkspartei, den Jungfreisinnigen, den Jungen Grünliberalen oder doch lieber zur Jungen Mitte?

Ich freue mich, als ich sehe, wie auch Schüler*innen, die sich eigentlich eher von der linkspolitischen Seite angezogen fühlen, dem SVP-Stand einen Besuch abstatten. Zugegebenermassen haben wir diese Parteien nämlich nicht nur aus Versehen zu zweit in ein Zimmer gesteckt. Es resultiert ein gleichermassen spannendes wie angespanntes Gespräch, das sich sogar bis in die Mittagspause hineinzieht. “En Guete!”

13:30 Uhr

Jetzt beginnt mein Lieblingspart des ganzen Tages! Leider muss ich feststellen, dass nicht alle diese Meinung teilen. Oder bilde ich mir bloss ein, dass die Aula inzwischen etwas weniger besetzt ist als noch heute Morgen um acht Uhr? Zu verpassen gibt es für sie jedenfalls eine Menge: Zwei rege Diskussionsrunden über Radikalisierung und Lobbyismus mit jeweils vier Diskutant*innen. Das will ich mir nicht entgehen lassen.

Zuerst werden die Rednerpulte mit vier Jungparlamentarier*innen besetzt, die darüber diskutieren, ob und in welchem Ausmass Radikalismus sinnvoll ist. Die unsichtbare Mauer in ihrer Mitte beginnt die jungen Politiker*innen bereits beim Aufsuchen einer einheitlichen Begriffsdefinition zu trennen. Alle wissen, wovon sie reden, meinen grundsätzlich dasselbe, aber sehen die Dinge trotzdem aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Politik ist eine Frage der Perspektive, wage ich an dieser Stelle zu behaupten. Doch bestimmt würde mir an genau gleicher Stelle schon jemand widersprechen. Interessant finde ich: Was für manche ein Widerspruch ist, trifft bei anderen den Nagel auf den Kopf. Was bei den einen hundert ergibt, ist bei wieder anderen gleich null.

Auch die nächsten vier Diskutierenden haben uns eine Menge zu sagen: Remo Daguati, Christoph Caviezel, Maria Pappa und Laurens Abu-Talib wissen genauestens über das Thema Lobbying Bescheid, doch dessen zukünftige Einflüsse deuten sie neuerdings alle ganz unterschiedlich.

Zeit für eine Vorstellungsrunde:

Remo Daguati ist Inhaber der LOC AG, Geschäftsführer des Hauseigentümerverbandes Kanton und Stadt St.Gallen und vertritt im St.Galler Stadtparlament die FDP.

Christoph Caviezel ist ausgebildeter Jurist, arbeitete als persönlicher Mitarbeiter von Ex-Bundesrat Joseph Deiss und leitet heute die Schweizerische Public Affairs Gesellschaft.

Maria Pappa ist St.Galler Stadtpräsidentin, vertritt die SP, steht der Direktion Inneres und Finanzen vor und ist ausgebildete Sozialarbeiterin.

Laurens Abu-Talib ist Geschäftsführer von politaris und Politikleiter der Schweizerischen Public Affairs Gesellschaft.

Lobbyarbeit – manchen Zuhörer*innen fängt bei diesem Wort langsam der Kopf an zu rauchen – meint die Beeinflussung der Exekutiven und der Legislativen durch politische Interessengruppen. Klingt erstmal viel zu weit weg dafür, dass es uns eigentlich täglich direkt betrifft. Die Diskutant*innen sind sich in einem einzigen Punkt einig: Das sollten wir uns nicht länger nur aus der Ferne anschauen. Wir sollen näher herangehen und genauer hinsehen. Ist die, nein unsere Demokratie in Gefahr? Oder wird der Einfluss des Lobbyismus in der Schweiz überschätzt? Wo hört rein sachliches Informieren auf und wo beginnt Behördenpropaganda? Ich bitte um Transparenz!

16:15 Uhr

Aufhören soll man ja bekanntlich da, wo es am spannendsten ist. Das müssen wir nun leider auch. Ein letzter Satz von Herrn Daguati liegt drin: “Bleibt kritisch.” “Und nehmen Sie am politischen Leben teil!”, fügt Herr Caviezel schnell hinzu. Danach nur noch unser: “Danke für Eure Aufmerksamkeit!”

 

Quellenangaben

Bilder: Milena Schärli und Vera Oberholzer

Bild 2: https://www.ksbg.ch/28-november-2019/

Lebenslauf Franziska Ryser: https://franziskaryser.ch/ueber-mich/

Bild Daguati: https://www.who-s-who.ch/personen/remo-daguati-282.html

Bild Caviezel: http://www.kleinreport.ch/leute/wirz-gruppe-schluckt-caviezel-communications-77754/

Bild Pappa: https://www.maria-pappa.ch/

Bild Abu-Talib: https://www.politaris.ch/about