Philo vs. Reli: Was um Himmels Willen soll ich wählen? Ein Interview.

An der Kanti haben wir Schüler*innen am Ende jedes Jahres die Qual der Wahl. Für die 2.-Klässler gilt es zum Beispiel, sich für ein WPF (Wahlpflichtfach) zu entscheiden. Dann heisst es Reli vs. Philo, Philo vs. Reli!  Wir wollten sehen, welche Unterschiede es zwischen den beiden Disziplinen gibt und worin sie sich ähneln. Dazu lassen wir die Experten für ihre Fächer sprechen. Herr Vetsch erzählt von der Philosophie und  Herr Brenneisen von der Religion.

 

Warum bzw. wofür ist das Fach Philosophie/das Fach Religion in meinem späteren Leben wichtig?

Religion: Das wird sich zeigen. Mir wäre sehr daran gelegen, dass du im Fach Religion möglichst in jeder Lektion auf etwas treffen, was dir jetzt wichtig ist, nicht erst im späteren Leben.

Philosophie: Die Philosophie ist bereits in deinem jetzigen Leben wichtig, welche Werte du hochhältst und warum, welchen Informationen du trauen kannst und welche Zusammenhänge dein kritisches Bewusstsein herausfordern sollten. Da Aufklärung nach Kant „eine unendliche Aufgabe“ ist, hoffe ich, dass du sie auch in deinem späteren Leben pflegen wirst.

 

Was ist der Sinn des Lebens?

Philosophie: Wenn ich den Satz, der diese Frage beantworten könnte, kennen würde, so würde ich ihn dir geben. Es gibt allerdings tragfähige Antworten auf die Sinnfrage, meines Erachtens: Freundschaft, Liebe, Austausch und Kooperation, Horizonterweiterung, der Entwurf einer Existenz, das Fördern des allseits Guten durch die Einforderung und kritische Entwicklung der Menschenrechte, die Arbeit am Natur- und Menschenbild zur Abwendung der ökologischen Katastrophe…

Religion: Zu leben. Zu wachsen. In einem liebevollen Kontakt bleiben mit sich selbst, mit den anderen, mit der Welt. Der inneren Sehnsucht treu bleiben. Gnädig sein mit den anderen und mit sich selbst. Die Schatten nicht gross werden lassen. Dankbar sein, wo immer es geht. — Dies meine subjektive und momentane Auskunft. Vielleicht überfällt mich morgen eine Erleuchtung, dann werde ich es sicher wieder anders sagen.

 

Mit welchen Persönlichkeiten werden sich die Schüler*innen in Ihrem Fach besonders beschäftigen? Als Beispiel?

Religion: Es kommen sehr viele in Betracht; letztlich entscheiden die Schülerinnen und Schüler mit darüber. In die engere Auswahl kommen möglicherweise: Siddharta (später Buddha). Maria Magdalena. Mahatma Gandhi. Der Dalai Lama. Mohammed. Jesus.

Philosophie: Der Sinn des Lebens liegt darin, seine Sinnlosigkeit, seine Absurdität, ertragen zu lernen. Das hätte Albert Camus, der Existenzialist, auf die vorangehende Frage antworten können. Seine Zeitgenössin Simone de Beauvoir brachte mit ihrer These, dass man nicht als Frau geboren, sondern zur Frau gemacht werde, den Feminismus bzw. die Genderdebatte entscheidend voran. Zu meinen weiteren persönlichen Lieblingen zählen, um nur noch eine Handvoll zu nennen, Diogenes, Sokrates, Aspasia a/k/a Diotima, Voltaire, de Sade, Hegel, Marx, Nietzsche, Rosa Luxemburg – und aus unserer Zeit Judith Butler, Slavoj Žižek und Carolin Emcke.

 

Wer passt in die Philosophie, bzw. die Religion?

Philosophie: Alle, die gerne über existenzielle Fragen nachdenken und die sich darüber, anhand von anspruchsvollen Texten, mit anderen frei austauschen möchten.

Religion: Alle, die in die Kanti passen.  😉

 

Gibt es Gott?

Philosophie: Diese Frage erinnert mich an die Gretchenfrage, und diese gilt im laizistischen Europa schon fast als Verletzung der Privatsphäre… Doch Scherz beiseite! In Bezug auf die Grösse, welche diese Frage anspricht, gilt Laotses sprachkritische Erkenntnis, aus der ich eine tolerante Haltung ableite: „Der Name, der genannt werden kann, ist nicht der ewige Name.“

Religion: Das hoffe ich, wobei die Schwierigkeit bei dieser Frage in dem Wort „gibt“ steckt. Jedenfalls glaube ich, dass Gottes Geist wirkt: tröstend, ermutigend, stärkend.

 

Warum unterrichten Sie Ihr Fach? Warum haben Sie dieses gewählt?

Religion: Ich hatte selbst einen Religionslehrer, der mich beeindruckt hat. Das hat meine Berufswahl beeinflusst. Später habe ich in einer gestaltpädagogischen Ausbildung noch andere Möglichkeiten für den Unterricht kennengelernt. Heute unterrichte ich Religion, weil ich die Themen nach wie vor nicht nur wesentlich, sondern auch sehr packend finde. Und — ich unterrichte einfach gerne. Warum? Weil die Schülerinnen und Schüler so viel mitbringen: die Fähigkeit, die gängigen Welterzählungen auf Hohlräume abzuklopfen. Das Gespür für Brüche und Unschärfen. Die Bereitschaft für einen genauen und kritischen Blick. Die Neugier auf das Ungeklärte. Das finde ich brisant und faszinierend.

Philosophie: Ganz einfach: weil ich mein Fach liebe!

 

Inwiefern werden sich die Schüler*innen in Ihrem Fach mit aktuellen Themen beschäftigen?

Religion: Auch dies hängt davon ab, welche Fragen und Interessen sie mitbringen. Es ist sehr vieles möglich.

Philosophie: Insofern sie es vermögen, die überlieferten Texte zu aktualisieren – einerseits, anderseits durch die Konfrontation mit brandaktuellen Thesen zu den Menschenrechten, dem Klimawandel, der Globalisierung und Digitalisierung, der Genderfrage, zu Rassismus und Antisemitismus, Speziesismus, Sexismus, Nazismus…

 

Was ist, Ihrer Meinung nach, die beste Art, die letzte Stunde vor den Ferien zu gestalten?

Philosophie: Eine zum Nachdenken anregende Geschichte vorlesen, zwei, drei Lieder singen, etwas frische Luft schnappen.

Religion: Chillig! Was immer das in der jeweiligen Klasse heisst.  🙂

 

Möchten Sie noch etwas hinzufügen?

Philosophie: Danke für die Fragen und die Gelegenheit, darauf antworten zu können.

Religion: Danke für deine Fragen!

kanti live: Vielen Dank für Ihre Antworten und dafür, wie Sie beide über Ihr Fach philosophieren!

 

 

Bildquelle: https://www.daskreativeuniversum.de/der-denker-auguste-rodin/