Vor nicht ganz zwei Wochen fand die Autorenlesung für UG-Klassen in der Bibliothek statt. Dieses Ereignis erinnerte uns gleich an den 24. Januar, als die preisgekrönte Aargauer Schriftstellerin Simone Lappert unsere Schule besuchte und vermutlich eine der fesselndsten Lesungen hielt, die es in unserer Aula je gegeben hat.
“Bevor sie springt, spürt sie das kühle Metall der Dachkante unter den Füssen. Eigentlich springt sie nicht, sie macht einen Schritt ins Leere (…)”
So beginnt Simone Lapperts zweites Buch Der Sprung und diese Stelle trägt sie vor den versammelten Schüler:innen in der Aula Neubau vor. Simone Lappert steht ganz aufrecht da, schaut ihr Publikum an, spricht mit vollkommen ruhiger Stimme, die doch rau scheint. Diesen ersten Ausschnitt trägt sie auswendig vor. Das erinnert an Poetry Slam und keine:r der Anwesenden hat eine andere Wahl, als wie gefesselt zuzuhören.
Als die Autorin wieder Platz genommen hat, erklärt sie ihren Auftritt. An dieser Buchstelle stehe eine ihrer Hauptfiguren ganz ohne Sicherung da, ohne Netz. So hatte sie das Gefühl, ebenfalls ohne Absicherung vortragen zu müssen, um dieser Figur gerecht zu werden.
Der Sprung
Kurz zusammengefasst geht es in ihrem Buch um Manu, die in einer fiktiven Kleinstadt auf dem Dach eines Gebäudes steht. Unten versammeln sich immer mehr Menschen, Schaulustige, Sensationshungrige und alte Bekannte. In jedem Kapitel erfahren die Leser:innen, über welche drei, vier oder auch weniger Ecken die Figur, aus deren Perspektive erzählt wird, mit Manu verbunden ist.
Traurig aber wahr
Die Idee für das Buch entstammt nicht ganz der Phantasie, denn Simone Lappert verarbeitete hier die Erzählungen einer Angehörigen; einer Angehörigen von einer Person, die eben genauso auf einem Hausdach stehend von unten beäugt wurde. Simone Lappert war schockiert zu hören, dass von unten so Unglaubliches hochgeschrien wurde wie: “Jetzt spring doch endlich.” Das habe sie nicht losgelassen, ebenso wenig wie die Frage, wo das Mitgefühl, die Empathie der Menschen in solchen Situationen bleibt.
Keine Moralpredigt, sondern Einsicht
Ein Stück weit habe sie versucht, in ihrem Buch, an dem sie über fünf Jahre lang gearbeitet hatte, auf diese Frage einzugehen.
Dabei ist es wichtig, respektvoll gegenüber den Figuren zu bleiben. Ich will niemandem meine eigene Moral aufdrängen. Das ist nicht das Thema des Buches. Wenn es aber zum Weiterfragen, zum Weiterdenken animiert, ist es das, was ich mir wünsche.
Solche Lesungen sind “lässig”
Ganz zu Beginn lobte die Schriftstellerin unsere Kanti. Sie hätte gerne selbst solche Autorenlesungen an ihrer Schule besucht, doch das habe es leider nie gegeben. Umso mehr wolle sie den Schüler:innen Zeit, geben ihre Fragen zu stellen.
Ein Schüler bemerkte, dass Simone Lappert in ihrem Buch Manus Fallen vom Hausdach sehr detailreich und anschaulich beschreibt. Ob sie denn “praktische Nachforschungen” angestellt hätte?
Natürlich nicht wirklich. Für Bungee Jumping bin ich viel zu ängstlich. Allerdings habe ich mir Videos von solchen Sprüngen angeschaut und genau recherchiert, was mit einem Körper im Fall geschieht.
Und sie fügt hinzu:
Einmal bin ich verbotenerweise nachts auf das Flachdach eines Hotels gestiegen. Ich wusste ja, dass dieses Hotel eben so ein Flachdach besass, an dessen Rand ich mich stellen und hinunterblicken konnte. Um zu erleben, wie sich diese Höhe anfühlt.
Manchmal braucht eine Figur mehr Platz
Eine nächste Frage war, ob sie auch autobiografisch schreibe. Wie viel von ihr selbst steckt in den Charakteren? Sie antwortete, dass ihre Erfahrungen immer ein bisschen mitschwingen.
Sie brauche Zeit, ihre Figuren kennen zu lernen. Manchmal müsse sie die Zügel an diese abgeben und die eine oder andere nimmt sich in der Geschichte dann einfach ein bisschen mehr Platz für sich. Manchmal müsse sie ganze Kapitel schreiben, die gar nicht ins Buch gehören, nur um eine Figur besser kennenzulernen. Sie verwickelt diesen Charakter dann vielleicht in einen Streit oder eine andere banale Alltagsituation – so sieht sie, wie er da oder dort reagiert.
Was braucht es denn zur Autorin / zum Autor?
Zu ihrer Arbeit als Schriftstellerin und zum Schreibprozess konnte sie den faszinierten Zuhörer:innen ebenfalls viele Tipps geben und so einiges offenbaren. Die langen Recherchen hätten ihr sehr beim Schreiben von Der Sprung geholfen. Sie konnte mit einem Mitglied einer Sondereinheit der Polizei sprechen, aber auch mit einer Streifenpolizistin, deren Ausführungen sehr ehrlich waren.
Beim Schreiben selbst braucht man die Disziplin, dranzubleiben. Sich jeden Tag hinzusetzen und zu schreiben. Dazu muss ich geistig frisch sein, also gleich am Morgen loslegen und ja keine Mails checken. Dafür ist am Abend Zeit.
Manchmal sitzt man Ewigkeiten am Computer, nur um einen Satz zu schreiben, der tags darauf wieder gelöscht wird. Trotzdem ist dieser Satz wichtig! Am liebsten arbeite ich jeweils bis zu einem gewissen Punkt und “lasse dann noch einen Satz übrig”, sodass ich am nächsten Tag weiss, wo ich weitermachen soll.
Und bei diesem nächsten Geständnis lächelt Simone Lappert gutherzig. Ich glaube, alle können sie verstehen:
Urs Widmer sagte einmal über das Schreiben: Es kommt nichts raus, was nicht auch rein geht. So trage ich immer ein Notizbuch bei mir, in dem ich neue Ideen aufschreibe, nachdem ich vielleicht im ÖV einen Dialog belauscht habe. Mit den Smartphones vergisst man so oft, dass man nicht allein ist. Und das Beobachten ist nun mal ein wichtiger Teil des Autorenberufs.
Das erste Zitat stammt aus:
Lappert, Simone. (2019). Der Sprung. Zürich: Diogenes.
Bildquellen: simonelappert.com