Polarisierung in den USA: Eine gespaltene Familie in einem gespaltenen Land

Das amerikanische Volk ist so polarisiert wie nie zuvor. Kanti live Redaktor und USA Korrespondent Pascal Keel hat seinen Englisch-Sprachaufenthalt in Kalifornien verbracht. In dieser Reportage berichtet er nun von seiner damaligen Gastmutter Heather, die miterleben muss, wie Politik sogar die eigene Familie spaltet.

„Kannst du mich jetzt sehen?“, fragt sie schon zunehmend verärgert. Der Bildschirm ist schwarz. Hören tu ich sie, sehen kann ich sie nicht. Es sind nun schon über sechzehn Monate vergangen, seitdem ich sie zum letzten Mal gesehen habe und es scheint, als müsse ich wohl noch zehn Minuten länger warten.

„Da bist du ja!“, frohlocke ich schliesslich, beim zweiten Versuch hat’s geklappt. „Schön dich zu sehen!“, ruft Heather, das Bild etwas wackelig, das gewohnte Lächeln gleichwohl ins Gesicht geschrieben.

Es ist auch schön sie zu sehen. Die mindestens sechzehn Monate und zehn Minuten fühlen sich an wie eine halbe Ewigkeit. Damals im Sommer 2019 noch vor Social Distancing, Masken und globalen Reiseeinschränkungen durfte ich meinen Englisch-Sprachaufenthalt bei den Boleis in San Jose, Kalifornien verbringen. Obschon die Verbindung auf Zoom etwas zu wünschen übrig lässt, so erinnert mich ihr Anblick trotzdem noch an den Tag meiner Ankunft, als ich mit offenen Armen beim Haus der Boleis empfangen wurde. „Ist schon lange her, was?“, sage ich. Wir haben viel nachzuholen, nach all dem, was in diesen sechzehn Monaten passiert ist.

Die Welt ist nicht mehr dieselbe. Auch das Land, das ich damals kennenlernen durfte, hat sich in kürzester Zeit stark verändert, steckt in den Klauen der Pandemie und ist geprägt von politischen Spannungen und Unruhen. Die jüngsten Ausschreitungen um die Präsidentschafts- und Senatswahlen, allen voran die Kapitolstürmung vom 6. Januar, haben die tiefen Gräben innerhalb des amerikanischen Volkes eindeutig aufgezeigt. Heathers Familie ist dabei keine Ausnahme.

Heather Bolei ist 55 Jahre alt und lebt mit ihrem Ehemann Tom und Sohn Devon in San Jose, Kalifornien. Tom gehe es gut, erzählt sie mir. Auch Sohn Devon sei wohl auf – mit ihm stehe ich ab und zu noch über die Playstation in Kontakt. „Ich habe das Gefühl, dass er jeweils nur mit dir Playstation spielt, damit er eine Ausrede hat, nicht den Müll rausbringen zu müssen“, witzelt Heather.

Sie scheint sich langsam an die Kommunikation per Webcam gewöhnt zu haben. Heather arbeitet in der Personalabteilung des Woods Institute for the Environment an der Stanford-University in Stanford, Kalifornien, und tut dies seit März nur mehr per Zoom von zuhause aus. Schon immer engagiert sie sich mit Leidenschaft für die Umwelt und speziell für das Wohl von Tieren. Ihre Eltern hätten sie früher schon zu Tierschutzdemos mitgenommen, erzählt sie mir. Ihre Aussage erscheint mir widersprüchlich, so habe ich ihre Eltern damals in den USA doch eigentlich als äusserst Pro Trump und stolz republikanisch kennengelernt. Doch das sei nicht immer so gewesen.

„Meine Eltern waren beide früher Demokraten und waren sogar sehr progressiv. Als Vierjährige haben sie mich schon an diese Demos gegen die Ermordung von Seerobben und Walen mitgenommen. Nun sind sie älter geworden und, wie üblich, je älter, desto konservativer wird man. Aber ich glaube, es liegt auch daran, dass sie viel Zeit mit meinem Bruder verbracht haben.“ Ihr Bruder lebt in Südkalifornien, arbeitet als Versicherungsmakler und ist bekennender Republikaner und Trump-Fan. Auf Anfrage schien er zunächst bereitwillig zu sein, mir seine Sichtweise in einem kurzen Interview zu schildern, allerdings brach er den Kontakt noch vor Terminabmachung abrupt ab.

„Ich glaube, er hat ihnen langsam seine Perspektive eingetrichtert. Sie haben angefangen Fox News zu schauen.“ Ihr gleiche der rechtslastige Nachrichtensender eher einem Kult als einem News-Outlet. „Wenn man Fox News schaut dann fällt man gewissermassen in diese Blase, in diese eigene Welt“, fährt Heather fort. Heute steht sie in ihrer engen Familie als einzige Demokratin da.

„Fühlst du dich je als Aussenseiter in deiner Familie?“, frage ich sie, die Stimmung des Gesprächs ähnelt nun zunehmend der einer Therapiestunde. „Oh, total! Wir sprechen immer weniger miteinander und nur dann, wenn auch wirklich nötig. Diskussionen um Trump kommen immer irgendwie auf. Aber ich habe mich mit der Zeit damit abgefunden. Ich versuche nicht, meine Familie zu dieser American-Dream-Family zu machen. Es ist halt, wie’s ist.“

Die Spaltung in Heathers Familie spiegelt die derzeitige politische Situation im gesamten Land wider. Laut einer Studie des Pew Research Centers in Washington D.C. aus dem Jahr 2017 sollen 80% aller Amerikaner sich der jeweils anderen Partei abgeneigt fühlen, eine Prozentzahl, welche in den vergangenen drei Jahren dank den reisserischen Aussagen des ehemaligen Präsidenten Donald Trump wohl noch weiter angestiegen sein mag. Demokraten gegen Republikaner. Konservative gegen Liberale.

„Meinem ultraneutralen Schweizerherz schmerzt diese tiefe Polarisierung in den USA“, bemerke ich etwas sarkastisch, doch Heather antwortet seriös:

„Ich denke, das hat alles schon unter Obama angefangen. Eigentlich fühlte ich mich wie im Paradies unter Obama, aber es gab natürlich auch Leute, die unglücklich waren, aus welchem Grund auch immer, wie mein Bruder zum Beispiel. Wir Leute, die glücklich waren, sahen nicht, wie andere Leute unglücklich waren. Wir glücklichen Leute waren einfach glücklich damit, glücklich zu sein und die unglücklichen Leute fingen an, immer irritierter zu werden.“

Daher sieht Heather Trumps Präsidentschaft auch als Art Weckruf: „Er hat uns etwas wachgerüttelt.“ Unter Obama sei es vielen nicht klar gewesen, wie viel Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie in den USA noch existiere. Trump habe das alles nicht unbedingt verursacht, aber viel eher offengelegt, verrät sie mir.

Ich versuche mich zu erinnern. Habe ich diese Polarisierung während meiner Zeit in den USA irgendwo verspürt, sie am eigenen Leib erfahren? Mir fällt der Besuch bei Heathers Eltern ein. Sie hat mich damals vorgewarnt: „Ich liebe meine Eltern, aber sie werden es irgendwie versuchen anzudeuten.“ Zugegebenermassen war ich zunächst etwas nervös. „Wie werden sie auf einen «Ausländer», einen Fremden reagieren?“, dachte ich mir. Aber mir wurde schnell klar, dass ihre Eltern eigentlich auch nur ganz normale Leute sind. Ehrliche, herzensgute Leute. Gastfreundlich haben sie mich empfangen, fragten mich neugierig nach meinen Erlebnissen und Impressionen in den USA. Ihr Vater nahm mich sogar auf eine kleine Spritztour in seinem 1963er Porsche über die Santa Teresa Hills im Süden San Joses mit. Die politische Spannung, die doch irgendwie spürbar war, rückte in den Hintergrund. Ob ihre Gastfreundlichkeit selbstverständlich oder jedoch nur meiner Hautfarbe und Herkunft zu verdanken war, sei dahingestellt.

„Du hast vorhin die American-Dream-Family angesprochen, was bedeutet denn der Begriff American Dream für dich persönlich?”

„Gute Frage.“ Heather überlegt kurz. „Die Freiheit, das zu tun, was man halt gerne tut. Aber dies soll minimale [negative] Auswirkungen auf andere Leute haben, Gemeinschaftssinn über persönlicher Freiheit. Das wäre wohl der Hauptpunkt.“

„Und lebt der Traum überhaupt noch?“, frage ich.

„Ich glaube schon, ja.“

„Was gibt dir Hoffnung?“

„Es gibt immer noch viele gute Menschen, die gute Dinge tun, trotz allem. Zum Beispiel all die Ärzte und das ganze Pflegepersonal, das täglich gegen das Virus kämpft. Die haben gezeigt, dass es immer noch gute Menschen gibt.“

„Inwiefern würde denn dein Bruder den Begriff American Dream anders definieren?“

„Ich denke, mein Bruder würde die Freiheit über den Gemeinschaftssinn setzen bzw. den Begriff Gemeinschaft anders definieren. Ihm ist sein eigenes enges Umfeld, seine eigene Familie sehr wichtig.“

Viele Amerikaner, darunter auch Heather, sehen in Joe Biden einen Hoffnungsträger. Er soll die immer grösser werdende Kluft zwischen den zwei Parteien überbrücken, das Volk wieder vereinen. Nun hat er in den ersten zwei Wochen seiner Amtszeit erst mal viel Zeit damit verbracht, Dekrete aus Trumps Amtszeit rückgängig zu machen.

„Wie könnte man denn deiner Meinung nach wieder zusammenfinden? In deiner persönlichen Situation, wie auch der im ganzen Land?“

„Ich glaube, wir müssen wieder herausfinden, was wir gemeinsam haben. In Gesprächen mit meinen Eltern enden wir am Schluss oft beim Begriff Gemeinschaft. Viele Leute haben mehr und mehr diesen Gemeinschaftssinn verloren, sie machen das, was sie tun wollen, ohne dabei auf ihr Umfeld oder auch auf die Umwelt zu schauen. Wir müssen wieder zu diesem Gemeinschaftssinn zurückfinden und abklären, wie eine Gemeinschaft aufgebaut sein soll und was funktioniert und was nicht. Wir müssen neu definieren, wie wir zusammenleben wollen.“

„Das wäre der perfekte Schlusssatz für meine Reportage, Heather!“, sage ich, sie lacht.

Eine Woche später teilt mir Heather mit, dass sie seit langem wieder mal mit ihrem Bruder gesprochen habe. Er habe von der Polarisierung innerhalb der Familie und von Heathers Einsamkeit nichts gewusst. Was die Polarisierung innerhalb des amerikanischen Volkes anbelangt, so gebe sie sich zuversichtlich, dass Biden einen Schritt in die richtige Richtung machen werde im Streben nach einer einheitlichen Definition von Gemeinschaft.

Pascal verbrachte in den Sommerferien 2019 einen dreiwöchigen Englisch-Sprachaufenthalt bei Heathers Familie in San Jose, Kalifornien und durfte so das alltägliche Leben einer typisch amerikanischen «Suburban-Family» kennenlernen. Vermittelt wurde ihm der Aufenthalt durch das Homestay-Programme von www.kultur-life.de.

 

Bild: https://www.touren-texte.ch/2020/10/30/usa-polarisierung/