Paul-Grüninger-Tag: Im Gedenken an einen Menschen mit Mut zur Menschlichkeit

Mit seiner Courage rettete er Tausenden das Leben – obschon er damit gleichzeitig sein eigenes ruinierte: Paul Grüninger. An seinem 50. Todestag kommen acht Ergänzungsfächer, eine Zeitzeugin und weitere Ehrengäst*innen zusammen, um über sein Lebenswerk und die Rolle unseres Staates im Zweiten Weltkrieg zu diskutieren.

Wir schreiben den 22.2.22. Nach zwei normalen Unterrichtsstunden trudeln die EF-Klassen in der Aula ein, wo SP-Ständerat Paul Rechsteiner, Journalist und Historiker Stefan Keller und Grüningers Enkel Dieter Roduner bereits auf sie warten. Gemeinsam schauen sie einen Dokumentarfilm und tauschen anschliessend ihre Erkenntnisse miteinander aus. Auf diese Weise lernen sie ein Kapitel der Schweizer Geschichte kennen, über das andernorts oft geschwiegen wird.

 

Die Schweiz und ihre Neutralität

In den späten 1930er Jahren sahen sich etliche europäische Jüd*innen gezwungen, aus ihren Heimatländern zu fliehen. Als eines der wenigen nicht-faschistischen Ländern schien die Schweiz eine rettende Oase zu sein. Doch Fehlanzeige – aus Bern kamen strikte Weisungen: Alle Schweizer Grenzen mussten für Jüd*innen abgeriegelt werden. Ihre Pässe wurden zur leichteren Identifizierung zusätzlich mit einem “J” gekennzeichnet.

Alle Pässe jüdischer Personen wurden mit einem solchen roten Stempel versehen

Ein Mutiger umging diese Bestimmungen jedoch geschickt: der St. Galler Polizeikommandant Paul Grüninger. Mit gefälschten Papieren ermöglichte er zwischen Sommer 1938 und Frühling 1939 bis zu 3’000 jüdischen Menschen die Flucht in die Schweiz. Da die meisten über den Grenzübergang Diepoldsau einreisen wollten, liess er dort ein Auffanglager einrichten. Als die Bundesregierung aber von Grüningers illegalen Rettungsaktion Wind bekam, wurde er fristlos entlassen und zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Es folgte ein Leben in Verachtung und Schmach – bis zu seinem Tod galt er in weiten Teilen der Bevölkerung als Landesverräter. Sein Freispruch im Jahr 1995 kam mehr als zwanzig Jahre zu spät; Grüninger selbst erlebte die damit einhergehende Anerkennung nicht mehr.

Paul Grüninger im Jahr vor seinem Tod 1972

Zu seiner Rehabilitierung trugen unsere Besucher massgeblich bei. Während der damalige Nationalrat und Anwalt Paul Rechsteiner den Prozess einleitete, arbeitete Stefan Keller die Rechtsfrage historisch auf. Mit seinem 1993 publizierten Buch “Grüningers Fall” sorgte er für ein Umdenken im Volk; Grüninger verwandelte sich zunehmend in einen der bedeutendsten Schweizer Nationalhelden.

Aus den Diskussionen in der Aula wird ersichtlich, dass auch die neutrale Schweiz nicht unschuldig ist an den verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges. Jedoch hat sie sich lange davor gedrückt, Verantwortung dafür zu übernehmen – die Tatsache, dass es bis zu Grüningers Straferlass so lange dauerte, ist hierfür ein lebhaftes Beispiel.

 

Diepoldsau während dem Zweiten Weltkrieg

In der zweiten Tageshälfte stehen verschiedene Programme auf dem Plan. Im EF “The Promised Land” ist die 92-jährige Diepoldsauerin Anna Lipp zu Besuch. In starkem Dialekt spricht die Dame in die Runde: “Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis mit den Juden.” Allerdings wohnten im Dorf auch vereinzelte Hitleranhänger*innen. Paul Grüninger habe sie persönlich nicht gekannt. Im Dorf wusste man aber ungefähr, welche Personen die Flüchtlinge nachts über die Grenzen schmuggelten. Da diese Handlung als gesetzwidrig galt, landeten die meisten von ihnen nach Kriegsende in der Strafanstalt Saxerriet.

Anna Lipp zu Besuch im D11

Im Jahre 1945 entging Diepoldsau haarscharf einer Bombardierung durch französische Panzertruppen, da diese meinten, das Dorf gehöre zum Deutschen Reich. Lipp erzählt aufgeregt: “Wir hörten, wie die Bomben in Bregenz und Friedrichshafen einschlugen. Nach kurzer Zeit war der Spuk aber auch schon wieder vorbei.” Die Viertklässler*innen folgen Lipps Worten gebannt; ihnen brennen viele Fragen auf der Zunge. Alle sind neugierig, wie der Rest der Bevölkerung mit den Nazi-Sympathisant*innen umging und was nach Kriegsende mit ihnen passierte – woran sie sich allerdings nicht gut erinnern kann. Immerhin war sie damals noch ein Kind und sich des Ernstes der Situation nicht vollständig bewusst.

Auch wenn sich der Krieg gegen Ende sozusagen vor ihrer Haustür abspielte, habe sie ein gewöhnliches Teenager-Leben geführt. Dies sorgt bei den Maturand*innen für Staunen: Im Schulunterricht werden oft die Szenarien an der Front thematisiert; nicht aber, wie das Leben der Menschen zuhause aussah. Lipp verrät uns, dass sie und ihre Klassengspänli sich freuten, als der Lehrer ins Militär einrücken musste – denn dies bedeutete weniger Hausaufgaben und mehr Zeit zum Blödeln. Mit dieser Aussage erntet sie sofort Sympathiepunkte im Publikum.

Zweifellos war die Freude in ganz Diepoldsau noch viel grösser, als die Alliierten dem Krieg am 8. Mai 1945 ein Ende setzten. “Am Tag der Befreiung gab es ein ausgelassenes Dorffest. Wir feierten die ganze Nacht durch”, kommentiert unsere Besucherin mit einem schelmischen Grinsen.

 

Ein inspirierender Tag

Wir Schüler*innen sind uns einig: An diesem Tag konnten wir viel dazulernen. Paul Grüninger zeigte mit gutem Vorbild, was alles möglich ist, wenn man für seine Überzeugungen einsteht. Vor allem zeigte er aber eines: Menschlichkeit. Und obwohl er aufgrund seiner Taten für den Rest seines Lebens geächtet wurde, bekräftigte er viele Jahre später: “Ich würde genau das gleiche wieder tun.” An seiner selbstlosen, humanen Art können wir uns wohl alle ein Beispiel nehmen.

 

 

Quellen:

  • https://www.deutschlandfunk.de/50-todestag-von-paul-grueninger-100.html
  • https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-paul-grueninger-100.html

Bild 1: tvo-online.ch

Bild 2: Jüdisches Museum Blog

Bild 3: Historisches Lexikon der Schweiz

Bild 4: Gian Lipp